Frühsommer 1989, Brandvorwerkstraße, Südvorstadt.
Die Sonne scheint und noch ahnt niemand, dass die DDR bald Geschichte ist. Vor mir läuft ein Kinderfascho, kaum 14 Jahre alt: straffer Scheitel, Röhrenjeans, Arbeitsschuhe als Spingerstiefelersatz. Mich als schwarzgekleideter Depeche-Mode-Dave-Gahan-Klon durchzuckt zunächst der obligatorische Fluchtreflex, doch mit dem Näherkommen sehe ich, dass er zwei Nummern kleiner ist als ich. Mein Selbstbewusstsein steigt. Gewaltbereitschaft ist für mich noch ein Fremdwort, stattdessen lache ich ihn mitten ins Gesicht, ich lache ihn aus. „Eh, bist Du auch aus Connewitz?“, fragt er mich unsicher. „Die Punks dort sind übel. Nach Connewitz würde ich mich nur mit 50 Mann trauen, 20 sind noch zu wenig.“ Ich hab keine Ahnung wovon er spricht, nicke aber bestätigend und werfe ihm noch ein mutiges: „Verpiss Dich!“ hinterher. Er verpisst sich. Meine erste Begegnung mit dem Mythos Connewitz.
Ein halbes Jahr später:
Montagsdemos, Mauerfall, immer mehr Rufe nach sofortiger Wiedervereinigung. Abweichende Meinungen werden gnadenlos ausgepfiffen. Die ursprüngliche Forderung nach einem demokratischen Sozialismus ist Anfang 1990 schon vergessen. Also wieder Flucht in die Nische. In der NaTo findet zum Jahreswechsel ein Punkkonzert statt. An einer Wand hängen Listen von leeren Häusern in Connewitz, die man besetzen solle um den weiteren Abriss des Stadtviertels zu verhindern. Innerhalb eines Jahres sind es etwa 15 Projekte, verschiedene Kulturläden wie das Conne Island, UT Connewitz und die Distillery kommen später hinzu. Das Abrissviertel wird eine Insel für Hippies, Punks, Gruftis, für junge Linke jenseits der Parteien. Die Ideen sind vielfältig: selbstverwaltete Freiräume, Platz für politische Alternativen, kein Stress mit Faschos, Fun und Action.
Doch ab dem 3. Oktober 1990 gehört Connewitz zur Bundesrepublik.
Faschos kommen regelmäßig mit Autokonvois in die Stockartstraße, werfen Brandsätze und prügeln vermeintliche Linke ins Krankenhaus. Polizei? Hat mit sich zu tun. Gegen solche Angriffe helfen nur festungsartig verbarrikadierte Häuser, weithin hörbare Alarmsirenen und entschlossene Menschen, die sich auf der Straße dem Nazimob entgegenstellen – nicht nur in Connewitz, sondern in ganz Leipzig – geboren aus der Notwendigkeit des Selbstschutzes. Er führt dazu, dass Faschos heute um Connewitz und Leipzig einen Bogen machen und unterschiedlichste nichtrechte Jugendkulturen hier eine relativ ungestörte Heimat fanden.
Doch 1990 interessiert sich der neue Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube aus Hannover nicht für die Faschoüberfälle sondern will in Connewitz vor allem „kein Refugium für Anarchisten und Chaoten“. Der Stadtteil wird zum ordnungspolitischen Problem gemacht, das es zu befrieden gilt – wahlweise mit Streetworkern, Knebelverträgen für besetzte Häuser oder durch die Polizei. Die alte Blockpartei CDU will besser gleich alles räumen lassen. Und in Leipzig-Holzhausen, Hoyerswerda, Rostock und anderswo brennen 1991/92 die Flüchtlings-Heime.
In dieser aufgeheizten Stimmung schießt Ende November 1992 eine Polizistin auf der Suche nach einem Autodieb in Connewitz einen 17jährigen Punker in den Bauch – in angeblicher Notwehr. Gerüchte eines Toten und der bevorstehenden Räumung aller besetzten Häuser führen zu zahlreichen Barrikaden durch hunderte Jugendliche, die entschlossen sind, ihren Kiez nicht herzugeben. Es folgt die größte Straßenschlacht in Leipzig seit dem 17. Juni 1953.
Mitte der 1990er Jahre werden schließlich die meisten Hausprojekte legalisiert.
Die Situation entspannt sich vorerst und Connewitz wird vor allem durch seine vielen Kulturprojekte und politischen Initiativen bekannt – und durch Schnellballschlachten.
Connewitz gibt es jetzt seit 25 Jahren und polarisiert bis heute.
Scheinbar alles, was dort unangemeldet im öffentlichen Raum passiert, fordert die Staatsmacht heraus – mehr als in anderen Stadtteilen. Ein Polizeiposten wurde deswegen eröffnet – und kürzlich testosterongeschwängert von Vermummten angegriffen, das Connewitzer Kreuz ist seit Jahren videoüberwacht. In der angrenzenden Südvorstadt wurden, bei sinkender Tendenz, 2012 und 2013 mehr jeweils Straftaten verübt, aber dort findet man keine Videokamera.
Ohne das, was vor knapp 25 Jahren in Connewitz entstanden ist, wäre Leipzig die langweiligste Stadt im Osten – gleich nach Chemnitz und Magdeburg. Alle Gaststätten schlössen 22 Uhr, überall hausgroße Plakate mit dem Konterfeit von Stanislav Tillich im Nadelstreifen und die einzige Musik, die 24 Stunden am Tag gespielt werden dürfte, wäre von Johann Sebastian Bach und Helene Fischer. Dazu darf es nie kommen.
Illustration von Annabell Goldacker.
Text von Sascha Lange*.*Er ist promovierter Historiker für Jugendkulturen des 20. Jahrhundert und hat die Ereignisse in Leipzig und Connewitz seinerzeit direkt mitverfolgt.
Erschienen im Kreuzer 02/15.
Das freie Radio Corax in Halle hat Sascha Lange im Dezember 2014 auch zur „Straßenschlacht und Kiezromantik“ in Leipzig befragt.
Kommentare
3 Antworten zu „„Mythos Connewitz“ – von Sascha Lange (2015).“
Sehr interessant für jemanden, der in den 90er Jahren noch im Nachbarviertel Südvorstadt mit der Kugel um den Christbaum gerannt ist und das Wissen um die Geschichten um Connewitz im nachhinein aufholen muss.
Vielen Dank für den Artikel!
Cooler Artikel. Nur würde ich mir meine Aufzählung der langweiligsten Städte noch mal überlegen.
Denn, Magdeburg ist bei weitem nicht langweilig, damals nicht, heute nicht. Da würde ich eher Städte wie Halle und Dessau sehen.
Wir Magdeburger haben unserer ganz eigene Geschichte. Und nur weil das Breakdänzn in Dessau groß wurde heisst das nicht das bei uns vorm Centrum Warenhaus kein SKR 700 Stand und Ravende Breakdancer dänzten :D
Das zweite Foto von oben (Simildenstraße) kommt mir bekannt vor bzw. weckt es einige Erinnerungen.
Ganz links auf dem Foto, das müsste „Keule“ sein. Den Altconnewitzern sicher bekannt. Ich glaube das könnte zu Keule’s Geburtstagsparty 1988 gewesen sein. An dem Tag waren reichlich Punks und VoPo’s anwesend. Ich bin dann mit einigen rüber zu „Frau Krause“ (Eckkneipe) zum Bierchen zischen, da war es auch schon brechend voll, zumindest haben uns dann die Bullen in Ruhe gelassen.