Wenn es gegenwärtig da draußen nicht so ekelhaft wäre, würde ich jetzt einen launigen Witz über die olle Standard-Chiffre 08/15 machen. Von wegen, dass alle MCs noch immer Schmutz sind (auch weil „Dies, Das 2.0“ alles rasiert), oder dass gescheiterte Ex-Pop-Aspiranten wie Mister Bassmaultier und Prinzessin Oh Nöö ja trotz „glaubwürdiger“ Rückbesinnung auf ihr altes Publikum Lappen sind, weil halt immer noch alles unfassbar wack ist, aber heute nicht.
Heute geht’s leider um ganz andere Dinge,
die in diesem Land leider wieder unfassbar wack sind und leider wieder zum Alltagsstandard gehören.
Wie ihr alle in den täglichen Nachrichten verfolgen konntet, sind wir ja in einer sehr ekligen Zeitschleife gefangen und plumpsen immer wieder unsanft in die 90er zurück. Und nee, jetzt kommen keine ironische Zeilen über haftengebliebene Ästhetiken, sondern Anklagendes über andere 90er-Kreaturen. Zwar tragen die Boneheads heute Haupthaar oder Mützen, aber es fliegen wieder Brandbomben und zwar nicht als harmlose Bildchen bei Facebook, sondern ganz real.
Man sollte glauben, man hat aus den Geschehnissen vor 23 Jahren etwas gelernt, damals™, als „besorgte Bürger“ unter Beifall tagelang Häuser angriffen. Aber die Sachlage ist folgende: Die Polizei meldet den Notstand an, das selbstzufriedene Publikum ruft – Ostproblem, bis es an der Peripherie ihrer Kleinstadt plötzlich auch nach verbranntem Menschenfleisch riecht. Ein selten um kreative Ideen verlegener Justizminister will Facebook verbieten, weil, wenn dort Hasskommentare verschwinden, verschwinden auch die Boneheads mit Haupthaar.
Normaler Wunschtraum.
Und ein bayrischer Minister wittert seine letzte große Chance für’s Breitbandformat und eilt an die Tanke, um noch ein paar Gallonen Benzin zu koofen, es brennt doch gerade so schön. Währenddessen können in der Nähe von Dresden Menschen aufmarschieren und ganz gruselige Sachen in die Nacht rufen und die Polizei angreifen, als wäre der Böller in der Gesichtsnähe eines Polizisten eine erlaubte freie Meinungsäußerung. Für manche Menschen sind halt nur brennende Häuser Stimmungsaufheller.
#keinePointe
Schuld hat natürlich wieder Hip Hop. Weil Audio88 + Yassin, als sie grade in Dresden waren, den Nahostkonflikt leider nicht gelöst und die Aussprechenden nicht mit normalem Samt geknebelt haben, wuchert dieses Denken leider weiter.
Ironie /off
Und so tanzen die Erklärmuster weiter ihren wilden Tanz. Experten in Funk und Fernsehen überschlagen sich mit lustigen Ideen, wie man mit der Menschenflut – oder war es ein Humantsunami? Ich bin verwirrt… – umgehen kann. Und manch ein Freiwilliger fragt sich, ob sein ehrenamtlicher Arbeitsweg zu den Verdammten dieser Erde tatsächlich noch sicher ist.
Deutsche Standards.
Ich fühle mich leider verdammt an die Zeit erinnert, in der dieses Lied entstand. Klar, der Vortrag hat mehr als nur ein bissl historische Patina angesetzt, aber verfickt nochmal, die erste Strophe klingt einfach immer noch nach dem Augenzeugenbericht von einer x-beliebigen Antiflüchtlingsdemo.
Was ist eigentlich passiert in diesem Land?
Eigentlich dachte man™, die Bevölkerung sei wegen NSU und anderen Dingen wenigstens grundsensibilisiert, aber die schiere Menge an kaltherzigem Hass, der dir inzwischen bei Twitter/Facebook entgegen quillt, geht überhaupt nicht mehr. Löschen, ohne entblößte Möpse unter der Hetze ist natürlich nicht möglich.
Deutsche Gemeinschaftsstandards.
Während ich noch „…und ich und ich und mir war, als wäre meine Sorte auf einmal rar“ vor mich hinsumme, kommen jetzt die ersten marketingstrategisch versierten Warner um die Ecke gewackelt und fordern einen Aufguss der Brothers Keepers. Würde sich ja sicherlich gut vermarkten lassen. Gewissensentlastung geht immer. Aber, der Mensch, der bei der ersten Version diese sehr eingängige Hook eingesungen hat, steht inzwischen ja bei Menschen auf Bühnen, die sicherlich nicht als die Hüter deines Bruders durchgehen würden. Auch hier muss ich sagen: Deutsche Standards.
Nope. Die zweite Single wird an den deutschen Zuständen nix ändern, weil itunes-Käufe ändern nichts, sonst wäre sie verboten. Vielleicht war ja der Brandanschlag in Salzhemmendorf so etwas wie die letzte Warnung (für die Zivilgesellschaft dieses Landes). Es gab dort nur keine Toten, weil sich die Mutter mit ihren drei Kindern glücklicherweise gerade im Nebenraum befand. Ekelhafterweise finden diesen Fakt einige Menschen sogar mies, und so bekommt diese Meldung bei Facebook sogar ein paar nach unten gebeugte Daumen.
Die Herrenmenschcäsaren haben gesprochen.
Die Befindlichkeit des Landes?
Gegenwärtig sitzen drei Gruppen Menschen vor der laut tickenden Uhr und warten ab – warten ab, bis es den ersten Toten gibt. Die einen, die sich vor dieser Tat fürchten, die zweiten, die von der Tat mal wieder vollkommen überrascht sein werden und die dritten, die diese Tat ausdrücklich begrüßen werden. Und die sich auch nicht mehr zu schade sein werden, diese Meinung auch per Klarnamen zu verkünden. Es ist an der höchsten Zeit, dass wir uns einmischen, jede/r so, wie er/sie kann – und wenn wir nur blanke Titten unter diesen Hass ritzen.
Wir müssen es tun, bevor wir alle zusammen in „…und ich und ich und mir war, als wäre meine Sorte auf einmal rar“ einstimmen müssen. Ich bin diese Deutschen Standards satt.
Aber ja, ein/zwei Dinge stimmen mich glücklich. Zum einen bin ich allen empirischen Belegen zum Trotz noch immer Optimist, wie diese wundervolle Grafik beweist…
…und ja! Natürlich gibt es auch genügend glaubwürdige Stimmen, die sich dezidiert gegen die neuen, die alten und die Ja-aber-Faschisten und Menschenhasser aussprechen, manche schalten sogar die Monetisierungsfunktion bei dieser Videoplattform ab.
Und was hat das jetzt alles mit Hip Hop zu tun?
Lass ma kurz nachdenken. War Hip Hop eigentlich nicht früher™ mal eine multikulturelle Jugendkultur, bei der zahllose deutsche Menschen mit sogenannter migrantischer Herkunft den Boden bereiten für den großen Ausverkauf von (Bio-)Deutschrap? Das Hip Hop-Ding begann als Sparte, und es hat sich sehr verändert, inzwischen ist es sogar anschlussfähig an rechtsradikale Propaganda – wie der von den Antilopen besungene Typ beweist.
Und während Beate Zschäpe wahrscheinlich noch immer U2 hört, lässt Dende ausrichten:
„Wenn du wirklich noch ein Fazit brauchst,
ich hab noch hunderttausend Reime auf
Nazis raus!“
Gut, dass er ne Pferdelunge hat, denn dieses Mal werden sich die Zustände erst dann/nur dann ändern, wenn wir wirklich bereit sind, uns als Gesamtgesellschaft zu ändern. Wenn wir anerkennen, dass es wortgewandte, leider noch immer wahlunberechtigte afrodeutsche und neudeutsche Mitbürger gibt. Dass es dort draussen ein neues, bunteres Deutschland gibt, schon lange.
Dieser Wahnsinn wird erst enden, wenn wir begreifen, dass wir alle eins sind, dass wir alle die gleichen Rechte haben und wenn nicht, dass wir darum kämpfen müssen, bis es dazu kommt. Es ist keine Frage, ob wir angesichts dieses blanken Hasses noch weiter schweigen wollen (oder können) oder ob wir uns dies für die salbungsvollen Sonntagspredigten aufsparen. Sondern wir müssen dies jeden verfickten Tag rausschreien, bis dies endlich der Deutsche Standard ist.
Bis dahin gilt, die Weisheit der deutschen Eiche. Passt auf Euch auf, denn die Zitronen sangen schon auf ihrer konzis-bösartigen (und später leider als hellsichtig zu bezeichnenden) Platte von 1994 „diese Leute sind ehrlich und somit sind sie gefährlich“. Sie hassen die „Fremden“ und somit hassen sie uns, weil die „Fremden“ für uns keine Fremden bleiben werden. Dieser abschließende Fickfinger ist all jenen gewidmet, die nicht verstehen wollen.
Tl;dr:
Die deutsche Eiche lügt nie. Vielleicht klatscht dein Nachbar ihr sogar Applaus. Wir müssen schreien und blanke Titten in Nazikommentare ritzen.
[Gastkolumne]
Der digitale Flaneur is ’ne Oldschool-Schleichkatze straight outta Berliner Hipsterenklave Neukölln. Er chillt noch immer mit A E I O U und den letzten Flashpunks rum. Nennt einen grünen Pass mit einem goldenen Wookie drauf, sein eigen und findet Torch und Savas antik, aber er zahlt immer noch Mitgliedsbeitrag bei der Silonation e. V. Zwiespältige Type halt.
„Der Titel ist ein kleines Spielchen mit der Zuordnung von Worten. Nicht The State of the Art, also der Stand der Kunst, sondern The Art Of The State – also die Schönheit des Punches steht im Zentrum.“
Aufzufinden ist er in diesem Internetz unter @digitaleflaneur. Früher schrieb er auch wortreich auf derdigitaleflaneur.blogspot.de.
Kommentare
Eine Antwort zu „#TheArtOfTheState 08/15 – „Deutsche Standards““
ach, wären die kausalen nebensätze jetzt noch richtig gebildet, wäre es ein wunderbarer artikel. inhaltlich r/wichtig