#TheArtOfTheState 06/15 – „Rapvideos oder der absurde Abwehrkampf gegen das fünfeinhalbte Element“

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Annodazumal – als man noch Cypherparolen wie „Gegen die Kultur“ oder reib meinen Zauberstab in Spinde ritzte und öffentliche Wandflächen mit gleichlautenden Farbanhaftungen beglückte – war das Mixtape das Medium der Stunde. Diese Perlen wurden mit dem Stift vor-, zurück- und zurechtgespult, um die Batterieressourcen zu schonen, und das gemeine Oldschoolschleichkatzengetier war sehr vergnügt, wenn frisches akustisches Material landete. Das visuelle Erleben fehlte.

Tapes – #© DJ Shusta.

Videos kannte man da zwar schon, aber das Holodeckgeballer spielte bis auf wenige Ausnahmen eher eine untergeordnete Rolle. Klar, die Juice gab mal ’ne Best Of-DVD mit den besten Katzen des Spiels heraus, aber auf diese schiere Unzahl von Videoschnipseln, Beefpartikeln, Vlog-Geplapper, in die Kamera gesäuselten Statements oder werbewirksame, arg homophile Halbnacktvermarktung von Proteinprodukten, die heute auf die staunenden Augäpfel niederflirren waren wir damals nicht vorbereitet! War niemals denkbar! Aber damals dachte auch keiner daran, dass Falk jemals ohne Mütze gesichtet wird oder dass Rapper für Kalifatsphantasien werben. Naive Schule halt.

Juice 02/2005 – German Rap Video Classics DVD.

Nicht, dass diese mediale Form verachtenswert wäre, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie AZAD uns „verbrannte wie Napalm“ und der damals noch ungekrönte König aller Penisanprei­sungspoeten seine Herrschaftsansprüche viral machte.

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Und ja, ich fand oftmals auch eben genau diese Art Videos sehr unterhaltsam, in denen Rapper XY sein beinhartes Samenstrangummantelungsgewebe lobend besang und drohte, deine Mama und de­ren gesamte weibliche Mitsippschaft mehrfach (und lachend) über sein Glied zu stülpen. Textlich natürlich grenzdebil, aber lustig – nur die dargebrachte Videokunst lahmte oftmals.

Heute is dit natürlich allet janz anders! Jeden Tag wird gigabyteweise Creme’n’Crap ins Netz gegossen, und oftmals liegt nur ein Klick zwischen beseelter Kunst und schmierigem Bäh. Aber dafür hat sich das Format komplett durchgesetzt. Vielleicht hat das Rapvideo – so mies sein Ruf gerade auch ist – tatsächlich sowas wie ’ne Demokratisierung geschaffen. Einfach weil jetzt jeder mit einer tighten Idee Aufmerksamkeit generieren kann.
Klar, der ein oder andere Spötter mag jetzt einwenden, ich hätte

  1. die Spötterinnen unterschlagen (hab ich nicht – die sind in der Gesamtmenge Spötter enthalten) oder
  2. übersehen, dass Rapper mit finanziell potenten Majorpartner im Rücken ihre sportlimousinengeschmückten Lobgesang erheb­lich hübscher ausleuchten können und auch ansonsten die genretypischen Grobreize deutlich besser platzieren können – jaja is richtig, alles furchtbar richtig – aber! …

…die meisten Majorvideos lutschen. Weil sie an einen Massengeschmack adressieren, der mich eher ermüdet – und sicherlich abertausende andere auch.

Ich würde dieser äußerst gefälligen Kulturkritik, die oft von diesen traurig-melancholischen Zurückguckern ins angeblich „Goldene Zeitalter“ geäußert wird, eher ’ne andere Position gegenüberstellen:

Nicht die Qualität der Videos ist das Problem, sondern ihre Quantität.

Klar kann man wie Felix Blume immer mal wieder gekonnte, unterhaltsame Bossschnipsel mit Ankündigungscharakter auf den hauseigenen Kanal kippen – weil er nun einmal den Bogen raus hat und weiss‘, wie man Amüsement und Entertainment kongenial zerschmilzt. Und weil man so den Kessel am Dampfen hält – vollkommen ok, Marketingalltag. Aber, man kann auch irgendwie klebrige Dinger bringen, wie der K(orrupt) C(hartende) Rebell, denn wer sich mondelang als treuester aller Strassensoldaten inszeniert, um dann für die sichere Chartplatzierung mit Ü12-Gemüse gemeinsame Sache macht, der singt in drei Jahren auch im Fern­sehgarten mit Xavier nationale Erhebungsschlager. Aber ja, heute will ich versöhnlich sein – es geht auch anders.


(Gegen-)Beispiel Eins: Der Mann mit der wohl ausgefallensten HipHop-Physiognomie besingt das Drogenparadies Brandenburg. Nope – kein bananiges Video mit Leihwagen und textilarmen Mietschnepfen. Eher ein mieser kleiner kurzweiliger Kurzfilm mit massig Anspielung auf Redneckslasherfilmchen. Sehr weit draußen – und daher nicht unberechtigterweise kurzfristig zum Liebling der Kulturteiljournaille avanciert. Klar, die treuen Reinhalter weinten gleich wieder in ihr Zulunationbettzeug, aber wenn kümmert dit heute noch.

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(Gegen-)Beispiel Zwo: Der Mann mit der Plauze als Maske plus Partner kippen eine brachiale hiphopfizierte Mashupabfahrt des Tatortreinigers (inklusive Hommage an einen Endhit) ins Youtubefernsehprogramm und kündigt so die komplette Übernahme nach der Totsagung des Albums durch alle an. Hätte keiner so erwartet, und so frass sich dieses Ding durch die 100000ergrenze. Für die beiden definitiv ein Hit. Ganz ohne Anbiederung an Ü12.

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(Gegen-)Beispiel Drei: Auch sehr putzig ist der Selbstzweck des bebilderten Lyricvideos. Man puz­zelt sich wie Disastar ein relativ bildarmes Video zusammen nur um seinen eigenständigen Story­tellertrack grafisch zu untermalen. Ohne dieses Video hätte der Song weniger gestreut. Ein trojani­sches Schaukelpferd streut Qualitätsmetastasen. Und plötzlich ist der Mann auf der Karte so deut­lich sichtbar wie Ländergrenzen.

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(Gegen-)Beispiel Vier: Noch ’ne Schippe perfider geht Mister mighty MoTrip vor. Klar, von dem Standardschwarzkopf erwartet der Standardyoutubberklicker Standardschwarzkopf-drogenverticker­tales oder vergleichbares kalkulierbares visuelles Gedöns.

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Soviel zum Postivrassismus im Spiel. Wer mehr wissen mag, der kann zur weiterführenden Illustration gerne mal „Zugezogen Maskulin – Agenturensohn“ pumpen. Der „Kanacke mit Grips“ seift aber eben genau diesen Zielgruppenkreis ein, wenn er drogenbezogene Lines nutzt um Rap über Rap bzw. Rap über Qualitätsrap zu machen. Und der Knaller ist, dass dieser heimtückische, doppelzüngige Stunt eben nur gelingt, wenn man Text und Video kombiniert. Chapeau Mister Mo! Geilster Move in dieser Spielzeit bisher. Vielleicht lernt man jetzt wieder genauer hinzuhören.

So gesehen kann ich über all die vielen bunten Bewegtbildchen beruhigt hinwegsehen. Videokunst diggen ist angesagt, gerne auch mit Kollegah-Videoskits vermengt. Die Rotze blieb früher schon im Laden liegen, warum soll’s heute großartig anders sein. Dear Selecters, es liegt an euch. Ihr entscheidet, ob ihr Rotze und Ausschussware pusht oder eben Ausnahmetalente mit Ideen. Argumentativer Zirkelschluss – ihr erinnert euch? Ich zitiere der geringen Aufmerksamkeitszeit halber nochmal:

„Einfach weil jetzt jeder mit einer tighten Idee Aufmerksamkeit generieren kann.“

Klar ist, es kann nicht jeder, aber die, die es können, lernt man lieben, diese Seerosen auf dem See aus Scheiße.


Tl;dr:
Videos sind der Tod der Kultur! brüllt die Reinhalterfraktion. Geil! Titten und Klicks sagt das Ü12-Gemüse. Diggt doch einfach tiefer und findet die Gegenbeispiele sagt der Flaneur.


Portrait #Marcus Dewes.

[Gastkolumne] 

Der digitale Flaneur ist eine originale Oldschoolschleichkatze, straight outta Berlin-Neukölln.
Er fand Torch bereits vor Savas antik. Chillt immer noch mit A E I O U und hat schon mit Flashpunks herumgetobt als die Menschen noch seltsame Hüte und Uniformen trugen. Ein straighter Anhänger der Silonation, der schon den ein oder anderen Westwind geschnuppert hat. Inhaber eines grünen Passes mit einem golden Wookie drauf.

„Der Titel ist ein kleines Spielchen mit der Zuordnung von Worten. Nicht The State of the Art, also der Stand der Kunst, sondern The Art Of The State – also die Schönheit des Punches steht im Zentrum.“

Aufzufinden ist er in diesem Internetz unter @digitaleflaneur. Ab und an schreibt er auch wortreich auf derdigitaleflaneur.blogspot.de.

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